Maria Prader: Pionierin der Sozialen Arbeit
Meine Grosstante Maria Prader (1910–1997) war eine der ersten Fürsorgerinnen im Kanton Graubünden. Ab den 1940er Jahren baute sie die Bezirksfürsorgestelle in der Gemeinde Davos auf. Es freut mich sehr, dass Dr. Tanja Rietmann von der Universität Bern derzeit zu diesem Thema forscht. Eine Fürsorgerin ist das, was wir heute eine Sozialarbeiterin nennen. Das Arbeitsfeld der Bezirksfürsorgerinnen im Kanton Graubünden war äusserst vielfältig: So lag ein Fokus auf der Tuberkulosefürsorge, die in den 1940er und 1950er Jahren insbesondere ärmere Bevölkerungsschichten geisselte. Ein weiterer Schwerpunkt lag in der Vermittlung von Sachhilfe: Mit tausenden von Gesuchen gelangten die Fürsorgerinnen gemäss der Untersuchung von Tanja Rietmann an gemeinnützige Organisationen, um Mittel für Bedürftige zu erwirken. Der Beitrag von Tanja Rietmann im Jahrbuch 2022 der Historischen Gesellschaft Graubünden macht deutlich, wie bitter die Armut war, die in den Bündner Alpentälern teilweise vorherrschte.
Für Veränderungen aufgeschlossen
Die Berufsjahre meiner Grosstante fielen in die Zeit grosser sozialpolitischer Umbrüche: Der Schweizer Sozialstaat entstand und ab den 1970er Jahren hatten sich die materiellen Lebensbedingungen breiter Bevölkerungskreise entscheidend gebessert. Auch das Menschenbild wandelte sich. Wollte man in den Kriegs- und Nachkriegsjahren die Befürsorgten noch erziehen, begannen sich ab den 1950er Jahren neue Fürsorgeverständnisse zu entwickeln und allmählich die Praxis zu verändern. Den Respekt vor der Würde des Menschen stand im Zentrum und man bemühte sich um eine Beziehung auf Augenhöhe. Obwohl Maria Prader noch in den alten Methoden ausgebildet worden war, zeigte sie sich offen für Veränderungen und organisierte 1953 kurzerhand eine Tagung, um das Thema des Social Carework zu vertiefen.
Ankämpfen gegen Widerstände
In der Forschung bereits seit Längerem bekannt ist, dass der Kanton Gaubünden in der Armenfürsorge im schweizweiten Vergleich eine Vorreiterrolle einnahm. Das macht meine Grosstante vermutlich zu eine der ersten professionellen Sozialarbeiterinnen nicht nur Graubündens, sondern der Schweiz. Was ihre Geschichte besonders macht: Der frühe Tod der Mutter nahm sie als die Älteste von fünf Geschwistern einer Bauernfamilie stark in die Pflicht. Sie half im Haushalt und in der Erziehung ihrer Geschwister mit – und befreite sich mit 40 Jahren von diesem vorgezeichneten Weg. Gegen innerfamiliäre Widerstände studierte sie an der Schule für Soziale Arbeit in Zürich und kehrte als ausgebildete Fürsorgerin nach Davos zurück. Wie sehr ein Schicksalsschlag das Leben einer Familie zeichnen kann, hatte sie ja bereits als sehr junge Frau erfahren. Ob vielleicht gerade dadurch dieser Berufswunsch in ihr geweckt wurde? Ihr Vater verkraftete den Tod seiner Gattin jedenfalls nie ganz und musste seine Alkoholsucht mehrmals in der Forel Klinik in Ellikon an der Thur behandeln lassen – just während “s’ Marieli” in Zürich Ende der 1930er Jahre Soziale Arbeit studierte.
Meine Grosstante war nie verheiratet und hatte keine Kinder. Dennoch war sie in meiner Familie eine wichtige Figur. Ein Leben lang pflegte sie verwandtschaftliche Bande intensiv und bewusst. Ihre Freizeit verbrachte Maria weder mit Sport noch mit Handarbeit, stattdessen galt ihre Liebe dem Lesen, der Musik, guten Gesprächen – und dem Reisen. So oft sie konnte, reiste sie nach England. Ihre bedingungslose Liebe für ihren Beruf, ihre Entschlossenheit, ihre unbändige Lust zu reisen und ihre Unabhängigkeit machen sie zu einem Vorbild für mich.
“Soziale Arbeit in den Tälern. Die Bündner Bezirksfürsorge zwischen Prekariat, Professionalität und Geschlecht 1943–1986”
In: Jahrbuch 2022 der Historischen Gesellschaft Graubünden
Dr. Tanja Rietmann
Interdisziplinäres Zentrum für Geschlechterforschung IZFG, Universität Bern